Interview mit Alexandra Guiraud - 8. April 2014

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Über Henriette Renié 


RENIE, Henriette 6.jpg

Welche Assoziationen haben Sie, wenn sie an Henriette Renié denken?
Trotz wesentlicher Unterschiede denke ich an das Zitat von Marie d’Agoult: „ Thalberg ist der erste Pianist der Welt. Liszt ist der Einzige“. Es gibt viele Harefnisten und Harfenistinnen. Henriette Renié ist  die Größte.

Sehen Sie Ähnlichkeiten zwischen Henritte Renié und Franz Liszt?
Ja. Nicht nur in Bezug auf die Virtuosität und die Beherrschung ihres Instrumentes betrifft. Sie haben auch diesen Glauben, den dramaturgischen Sinn. Beide benutzen gern die Poème Symphonique, sie führen die melodischen Linien in einem gleichen Modus. Henriette Renié war sehr von der Musik von Liszt geprägt. Ich denke, dass sie seine Werke sehr gut kannte!

Obwohl ist Parish-Alvars seit der Berliozzeit der „Liszt“ der Harfe?
Das stimmt. Es war aber in 1842. Zu dieser Zeit hatte Liszt noch nicht seine Meisterwerke wie die Sonate oder die Faust Symphonie  komponiert. Berlioz hat  Parish-Alvars mit Liszt verglichen aufgrund ihrer Virtuosität. Jedoch kann man Liszt nur auf seine Virtuosität reduzieren. Nehmen Sie z.B. die Contemplation oder die six pièces, au bord du ruisseau, valse mélancolique von Henriette Renié: es ist offensichtlich, dass es große Gemeinsamkeiten mit Consolations von Liszt gibt. Sogar der Titel des Stückes Andante religioso klingt sehr nach Liszt! Wenn man die Gnomenreigen von Liszt anhört, wird man wiederum erinnert an den Tanz des lutins von Renié. Es scheint, als habe Liszt Renié beeinflusst. Wir können noch ein weiteres Beispiel nehmen: der Anfang von Liszts Stück Héroïde funèbre ähnelt Reniés Stück Pièce symphonique.

Ihrer Meinung nach scheint Liszt eine Referenz oder eher ein Modell zu sein?
„Referenz“ ist schon richtig. Obwohl Liszt sehr präsent in Reniés Werken ist, hat man  niemals das Gefühl, dass es sich um ein „nachgeahmtes“ Stück, also eine Kopie, handelt. Das wäre passiert, wenn Renié Liszt als Modell genommen hätte. Nein, sie bezieht sich nur ein bisschen auf Liszt. Aber die Sprache von Renié entspricht ihrer Zeit. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sie nicht mehr komponiert.

Obwohl sie in dem gleichen Jahr von Ravel geboren ist und somit Zeitgenossin von Schönberg, Stravinsky, Bartok und Varèse ist, bleibt Renié trotzdem für Sie zu ihrer Zeit einzigartig?
Ja natürlich! Die Komponisten von denen Sie die Namen zitiert haben, müssen die anderen Komponisten nicht in den Schatten stellen. Die Musik von Renié ähnelt der von den Organisten-Komponisten aus Paris wie z.B. Charles-Marie Widor, Léon Boëllmann, Charles Tournemire...und vor allem Louis Vierne. Louis Vierne ist  innovativer denke ich als die andern. Übrigens, wenn Sie ein Stück von Renié einem Organisten vorspielen (ohne dass er weiß, wer der Komponist ist) er könnte sagen, dass es sich um ein Stück von Vierne  handelt. Komischerweise, wenn er das Stück für Harfe solo von Vierne Rhapsodie op.25 hören würde, könnte er nicht unbedingt auf diesen Komponisten kommen.

Es ist schwierig die Viernes Orgel in den Harfenstücken Renié zu hören...
Nehmen Sie z.B. César Franck. Er komponiert für die Orgel anders als für das Klavier. Der Grund dafür ist die Tatsache, dass es auf dem Klavier räsonierende Klänge gibt. Die Orgel hat jedoch fixierte Klänge. Also, wenn man Cantabile schreibt, kommt es zu einem anderen Ergebnis, weil es auf den zwei Instrumenten unterschiedlich klingt. Auch die begleitenden Figuren sind anders. Der Komponist muss sich dem Instrument anpassen. So ist es auch bei Renié und Vierne: eine gemeinsame Sprache mit angepasster  Kompositionstechnik.

Was können Sie über das fantastische Element in der Musik von Renié sagen?
Das ist das wichtigste Element in ihren Werken. Ich denke, dass das Stück l’apprenti sorcier von Dukas aus dem Jahr 1847 einen starken Eindruck bei Renié hinterlassen hat. Sie hat die Légende drei Jahre später komponiert. Renié hat nicht nach einer Ballade von Goethe (wie Dukas) komponiert aber hat sich auch von einem Schriftstück inspirieren lassen: Les Elfes von Leconte de Lelisle erzählt eine Geschichte von einem schwarzen Ritter, derin der Nacht durch einem Wald reitet um seine Geliebte wiederzufinden. Er trifft Elfen und er stirbt am Ende. Die Geschichte ähnelt dem Elfkönig, eine Ballade von Goethe (diese wird übrigens von Schubert musiziert).
Die Ballade fantastique ist noch ein weiteres Beispiel. Es herrscht die Meinung, dass mit diesem Stück Renié Caplet 1923 zur conte fantastique angeregt hat. Das stimmt, da beide Stücke gemeinsame Elemente aufweisen: bei Renié gibt es das verräterische Herz von Edgar Poe bei Caplet  ist die Maske des roten Todes... Gut. Nur die conte fantastique von Caplet ist eigentlich eine neue Fassung für Pedalharfe und Streichquartett von seinem einigen Stück étude symphonique  für chromatische Harfe und Orchester aus dem Jahr 1909, drei Jahre vor der ballade fantastique von Renié. Ich bin sicher, dass Renié der Urrauführung des Stückes in die Konzertreihe des Concerts Colonnes mit Lucille Wurmer-Delcourt auf der chromatischen Harfe beiwohnte. Reniés Freund und Komponist Gabriel Pierné hat dieses Konzert dirigiert. Sie hat sogar Piernés Stück Konzertstück für Harfe und Orchester 1903 urraufgeführt. Und noch dennoch Pierné schrieb seine Oper les Elfes früher als Reniés Stück danse des lutins! Ich bin auch sicher, dass sie auch der Urraufführung von ihrem anderen Freund Camille Chevillard  (der sogar Reniés Concerto in ut urraufgeführt hat, zusammen mit Renié auf der Harfe) beigewohnt hat. Kurz gesagt ist das Fantastische bei Renié äußerst wichtig, weil es das Basiselement ist von einem Komponisten- nicht nur in Bezug auf den Poème symphonique. Dies wird in ihren vier Werken wiedergegeben: Légende, danse des lutins,pièce symphonique und ballade fatastique.

Welchen Einfluss hat Henriette Renié ihrer Meinung nach durch ihre Kompositionen für die ihr nachfolgenden Komponisten für Harfe hinterlassen?
Ehrlich gesagt, enthält ihr Werk nicht mehr als zehn Kompositionen. Die Hälfte ist nicht besonders. Ich werde wahrscheinlich einige schockieren aber Henriette Renié war keine ‚Komponistin“. Durch das Schreiben eines musikalischen Werks wird man nicht zum Komponisten, auch wenn das Stück genial ist. Ich denke aber, dass sie den Beruf  „der Komponistin“ ausgeübt hatte und zwar sehr gut! Komponistin zu sein, ist mehr als einem Beruf! Das erklärt, warum sie einerseits so wenig komponiert hatte und anderseits nicht weiter gemacht hatte und das Komponieren so früh aufgab. Wissen Sie, kurz vor seinem Tod, sagte Liszt zu seinem Schüler Carl Lachmund:“ Wenn Einem nichts einfällt, dann nimmt man ein Gedicht her und es geht ; man braucht da gar nichts von Musik zu verstehen und macht Programmmusik. Ich denke, dass Renié von einigen Meisterwerken sehr beeinflusst war und sie wollte sich einfach ausprobieren. Das ist alles. Also Hand aufs Herz- ihren Einfluss als Komponistin auf die jüngeren Komponisten ist sehr gering. Wahrscheinlich waren diejenigen,  die sich für die Harfe interessieten, eher nah an Salzedo, nicht nah an seinem Werk, natürlich aber an seiner“ école moderne de la harpe“. Dennoch sind für die Harfenisten die Stücke von Henriette Renié sehr belebend: sie können ihre Spieltechnik sehr verbessern, viel mehr als bei anderen Stücken von anderen Komponisten. Bei Renié dient die Technik immer der Musikalität. Dadurch gibt es viel Motivation diese zu üben.

Ihr Zitat von Liszt gilt aber nicht für das Harfenkonzert von Renié.
Ja. Aber wie ihre Werke das Trio für Violoncello, Geige und Harfe oder die Sonate für Violoncello, zähle ich nicht ihr Harfenkonzert zu ihren „authentischen“ Stücken. Zuerst, weil sie dieses Konzert während ihres Studiums am Conservatoire de Paris geschrieben hat. In diesem Alter musste sie noch beweisen, was sie alles konnte. Aber vor allem das Harfenkonzert passt nicht zu ihr. Die Orchestrierung ist sehr einfach, fast naiv.
In Bezug auf Chopin kann man sagen, dass z.B. die Symphonie oder Quartette ihm nicht so lagen. Jedoch bei den Mazurkas, Polonaisen, Walzer oder Präludien ist er ausgezeichnet.
Genauso ist es bei Mozart- es ist sehr seriös in einer Messe eine Fuge zu schreiben, obwohl die Fuge nicht zur klassischen Epoche gehört. Es erscheint wie eine Rückkehr zu den Wurzeln.
Wenn Parish-Alvars in der Harfenliteratur das Concertino oder die Konzert-Form benutzt, weicht er sehr weit ab von seiner typischen fantastischen virtuosen Stücken wie die  Mandoline oder die Sérénade. Mir geht es ebenso mit den Harfenkonzert von Renié. Ich will nicht sagen, dass es ein langweiliges Harfenkonzert ist, im Gegenteil! Aber nur das Konzert mit drei Sätzen anlehnend an die Vergangenheit, trifft nicht den Ausdruck von Reniés Musikstil.

Zu dieser Zeit spielten die Harfenisten auf den Erard Harfen. Welches Verhältnis hatte Henriette Renié zu der Firma Erard? Denken Sie, dass Henriette Renié sehr gern auf den Lyon&Healy Harfen spielen hätte, wenn diese Harfen zu dieser Zeit existiert hätten?
Tatsächlich spielte Renié auf Erard Harfen. Das ist nicht so wichtig aber ich kann Ihnen schon sagen, dass sie auf einen Gotik Modell 47 Saiten in Ahorn n°2258 von 1892 spielte. Das Modell wurde für sie gebaut. Sie hatte eigentlich kein andere Wahl auf anderen Harfen als denen von Erard zu spielen. Damals war es sehr schwierig in Frankreich andere Harfen aus anderen Firma zu finden, die genau so gut klangen wie die von Erard. Man konnte alte Harfen aus England wie die Blazdell finden oder noch Erat, Grosjean... Einige Harfen wurden aus Milan nach Frankreich importiert. Aber die neuen Harfen waren die von Erard. Aus politischen Gründen gab keine deutsche Harfen. Ich denke an die wunderschönen Instrumente von Loeffler. Ebenso waren die Lyon&Healy und Wurlitzer in Frankreich unauffindbar.
Die Firma Erard hat immer die Harfenisten unterstützt und die Geschichte von Renié ist sehr mit dieser Firma verbunden. Durch diese Firma hat Renié ihren ersten Harfenunterricht von Hasselmans bekommen. Es war in dem Erard Konzertsaal, wo Renié ihre ersten Konzerte gegeben hat. Erard hat ihr immer finanziell geholfen um Konzertaufführungen zu finden, wenn sie Geld brauchte... Die Harfenbauproduktion war sehr gering im Vergleich mit der Klavierbauproduktion. In 1959  baute die Firma nicht mehr als 5000 Harfen- gegenüber mehr als 130000 Klaviere, also die Harfenproduktion war noch geringer als 4% der Gesamtproduktion! Das heißt fast nichts, ergo verdiente Erard  nur gering mit der Harfenproduktion. Sie fuhren mit der Produktion fort, weil sie die Besten waren und weil sie den Harfenisten helfen wollten. Eine Zeit lang schenkte die Firma jeweils eine Harfe dem Gewinner des ersten Preises aus dem Pariser Konservatorium. Und ich habe viele andere Beispiele... Hätte sich Renié für eine andere Harfenfirma entschieden, wäre die Folge ein heftiger Streit zwischen beiden Parteien gewesen.

Spielen Sie selbst die Stücke von Renié auf ihren Erard Harfen? Welche Unterschiede gibt es zu unseren moderne Harfen?
Ja. Aber Vorsicht: wir müssen nicht die modernen Harfen mit den neuen Harfen verwechseln... Die Harfe St.23 von Lyon&Healy wird 1890 gebaut und diese Harfe ist schon eine „moderne Harfe“: einer breiter Resonanz Tisch, innerer Mechanismus, Trennung von den Kopfbewegungen... Paradoxerweise gibt es viele jüngere Erard Harfen, die neuer als die modernen Harfen sind. Ich spiele die Stücke von Renié nicht auf den Erard Harfen aufgrund der Authentizität, sondern nur wegen der Klangfarbe. Auf den Harfen von Erard sind die Attake viel genauer und die Register sind ganz anders als bei den amerikanischen Harfen. Der Anfang von der Légende von Renié fängt mit dem tiefsten C an. Bei Erard klingt es wie eine Totenglocke. Der Klang ist wohl definiert. Auf einer amerikanischen Harfe  muss man sehr tief auf der C Saite spielen um einen „akzeptablen“ Klang zu haben. Das ist dasselbe für den Trauermarsch in pièce symphonique . Der Abwärt Ostinato im Bass ist viel bedrückender auf der Erard als auf der moderne Harfe. Der Danse des lutins ist recht kristallin im höheren Register auf einer Erard und man kann auf der Erard eher „scherzando“ spielen und so wird die Atmosphäre des Stückes noch fabelhafter und fantastischer.

Aber die Pedalen auf den Erard Harfen sind nicht so bequem wie die auf den neuen Harfen...
Die Erard Harfen waren bis in die jüngste Vergangenheit sehr beliebt und wurden nicht nur von den „Alten“ gespielt. Fast alle Harfenisten vor mir haben auf einer Erard gespielt und es hat sehr gut funktioniert... Heutzutage ist klar, dass der Mechanismus der Erard veraltet ist. Aber Reniés Stücke auf einer Erard zu spielen ist nicht zu schwer. Man muss nur mehr aufpassen.

Henriette Renié war eine der ersten, die die chromatische Harfe unterstützte. Claude Debussy hat ihr die danses sacrée et profane für chromatische Harfe gewidmet. Dennoch hat Renié dieses Stück für die Pedalharfe transkribiert. Ihrer Meinung nach warum?
Renié hat nichts mit der chromatischen Harfe zu tun... Ich vermute, dass Sie diese Informationen in dem Buch von Françoise de Varenne gelesen haben? Das ist komplett falsch! Gustave Lyon, der Erfinder der chromatischen Harfe, hat diese Harfe nicht Renié gewidmet. 1894 haben Felix Godefroid und Alphonse Hasselmans Gustave Lyon (neuer Chef des Pleyel Haus) getroffen. Sie wollten, dass G. Lyon die Pedalharfen weiterbaute. Für Godefroix und Hasselmans erfand Lyon die chromatische Harfe. Eine Harfe ohne Pedale und mit zwei gekreuzten Reihensaiten (wie auf dem Klavier: eine Reihe ist wie die weißen Tasten, die andere Reihe ist wie die schwarzen Tasten). Um diese Harfe zu fördern, hat Lyon neue Stücke von seinen zeitgenössischen Komponisten bestellt wie z.B. Henri Nüsser, Reynaldo Hahn, Florent Schmidt, Paul le Flem, Alfredo Casella, Joseph Jongen und selbstverständlich Claude Debussy. Die Harfenistin Wurmser-delcourt spielte bei der Uraufführung1904 die  Danses sacrée et profane auf der Pleyel, einer chromatischen Harfe. Danach adaptierte Renié das Stück für die Pedalharfe: sie hat nichts geändert, sondern nur Fingersätze und die Pedalen geschrieben. Man kann es nicht eine „Transkription“ nennen. Das Stück hat Renié auf der Pedalharfe 1910 mit Camille Chevillard uraufgeführt. Trotz ihres Triumphes sind die danses sacrée et profane Gustave Lyon gewidmet und nicht Henriette Renié. Ehrlich gesagt, denke ich nicht, dass Renié die chromatische Harfe sehr geschätzt hat. 1897 schickt die Firma Erard Renié auf die Harfenmesse in Bruxelles, um Qualität der Erard Harfen gegenüber der chromatischen Harfen von Pleyel zu demonstrieren. Die beiden Firmen stellen ihre Exponate in demselben Raum aus und Renié schafft es, die Pleyel Harfe und einen Kollegen lächerlich zu machen. Zu dieser Zeit war die Pleyel Harfe nur ein Jahr alt und es mangelte ihr an Technik, um alle Spielarten aufzuführen.

Was war die Ursache?
Die Spieltechnik ist anders als bei der Pedalharfe. Die Fingersätze sind verschieden... Man kann auch nicht unsere Lieblingsspieltechnik ausüben: die sogenannte Glissando... Durch die zwei Reihensaiten, bei denen die Saiten sehr nah aneinander liegen, werden viel mehr Geräusche erzielt. Das Flageolett ist auch schwieriger zu spielen. Warum sollte man sie nutzen, wenn man so viele chromatische Elemente auf der Pedalharfe spielen kann? Z.B. das Thema aus der Légende, extrem chromatisch, klingt darauf sehr gut.

Außerdem hat Henriette Renié viele Stücke transkribiert. Können Sie uns etwas darüber erzählen?
Im Vergleich mit Transkriptionen von anderen Kollegen hat sich Renié wenig an das  Originalstück gehalten. Dermaßen, dass ich es nicht richtig eine „Transkription“ nennen kann. Für mich ist es eher eine Adaptation. Wenn wir ihre Adaptation mit den Transkriptionen von Marcel Grandjany (ein Harfenschüler von Renié) vergleichen, ist Renié mit dem original treu. Die Grandjany -Transkriptionen klingen eher Granjany als Haendel. Das ist dasselbe mit Busoni und Bach (nur Busoni war genial). Solche Transkriptionen sind ein sehr wertvolles Zeugnis. Hier wird gezeigt, wie Grandjany, Busoni und ihre Zeitgenossen die Barockmusik auslegten. Nach dieser Interpretation  sind die „Transkriptionen“ aus der Barockzeit von Renié enttäuschend... Man erkennt Reniés Stil gar nicht. Als sie die  Nachtigall und der Sospiro von Liszt adaptiere, musste sie ja die Kadenz umschreiben um die Stücke auf der Harfe spielen zu können. Sie hielt sich aber immer sehr das Original.

Sie haben selbst viele Stücke von Liszt transkribiert. Aber auch Beethoven, Bach von dem Sie die Goldberg Variationen aufgenommen haben. Wie nah sind Sie mit Renié oder im Gegenteil wie sind Sie anders in Ihrer Vorgehensweise bei der Transkribtion?
In dem Bedürfnis zu transkribieren lehne ich mich nah an Renié eher. Sie erzählt es sehr gut in dem Vorwort in ihrer Harfenmethode. Genau wie Renié transkribiere ich nicht, sondern ich adaptiere. Ich spiele einfach Noten auf dem Klavier oder Cembalo. Manchmal muss ich eine Kleinigkeit ändern aber dann nur sehr wenig. Wir sind beide eher Interpreten-Transkripteure als Komponisten-Transkripteure. Schade eigentlich, weil ich denke, dass eine sehr persönliche Transkription viel interessanter ist als nur eine Adaptation. Liszt ist zum Beispiel ein unglaublicher Transkripteur (Komponist!) und genauso Boulez...oder sogar Jimmy Hendrix, Bob Dylan, Wynton Marsalis Thelenious Monk, Dizzy Gillespie... und noch viele mehr. Also ja, ich lehne mich an Renié an, in der Vorgehensweise, in dem Sinne, dass unsere „Transkriptionen“ nicht so besonders sind... Jeder besonne Harfenist kann es tun. Man muss nicht kreativ sein. Das ist nur interessant, um unsere Instrumente und die Spielweise besser kennenzulernen, unsere Technik zu verbessern und zu überlegen, was man zur Verbesserung des Klangs unternehmen könnte.

Man braucht viel Virtuosität, um die Stücke von Renié zu spielen. Wie neu ist Ihre Spieltechnik?
Es gibt nichts Neues! Ich denke, dass alles von ihr kommt und von Hasselmans, ihrem Harfenprofessor in Paris. So wurden die Tremolos in die Légende von dem Stück Follet von Hasselmans inspiriert, das C Pedal wiederholt mit der rechten Hand mit das Flageolett mit der linken Hand sind aus der Harpe d’Eole von Hasselmans. Henriette Renié ist die Erbin der französischen Harfenschule. Genauso wie später Marcel Grandjany, Lily Laskine, Pierre Jamet... damalige Schüler von Hasselmans. Renié hat nichts erfunden aber sie war so begabt, dass sie die französische Harfenschule zu ihrem Höhepunkt gebracht hat.

Eben bedauern Sie, dass Henriette Renié nicht die Nachfolge von Alphonse Hasselmans an dem Pariser Konservatorium angetreten hat?
Ja natürlich! 1912 stirbt Hassemans nach 28 Jahren des Unterrichtens am Pariser Konservatorium. Er hat sich bei Fauré (der Direktor des Konservatoriums) versichert, dass Renié, seine beste Schülerin, seine Nachfolgerin sein wird. Trotzdem berief Fauré Marcel Tournier für diese Stelle. Renié war als Harfenistin sehr berühmt. Ich meine nicht nur in der Harfenwelt, sondern überhaupt: sie hat es geschafft, die Harfe als Soloinstrument zu erhöhen. Sie musste diese Stelle haben. Eine Zeit lang hat man gesagt, dass sie die Position nicht bekommen hat, weil sie eine Frau war. Leider stimmt das aber das ist nicht der einzige Grund. Marguerite Long war schon dort seit 1906 Klavierprofessorin. Nadia und Lily Boulanger haben einige Preise beim Rom Wettbewerb erhalten (1908 und 1913). Es gibt auch noch Cécile Chaminade danach Wanda Landowska...
1912 war Frankreich unter der Dritten Republik. Henriette Renié war wie eine „Reaktionärin“ angesehen, weil sie gegen dem Gesetz von 1901 war. Dieses Gesetz führte die Trennung zwischen dem Staat und der Kirche ein. Außerdem war Renié sehr royalistisch (so war die Meinung von Theodore Dubois, Harmonieprofessor am Pariser Konservatorium). Sie hatte also keine Chance, eine offizielle Stelle zu bekommen. Es gibt noch einen weiteren Grund: Marguerite Hasselmans, Solfègeprofessorin an dem Konservatorium (die Tochter von Hasselmans) war sehr erzürnt über Renié, weil Renié ihre Beziehung mit Fauré stark kritisierte. Marguerite Hasselmans war 36 Jahre alt und Fauré 67 Jahre alt... Marguerite war also sehr aktiv gegen die Nominierung Reniés für die Harfenstelle.

Vielleicht scheint die Musik von Renié auch nicht so modern wie die Musik von Tournier ...
Ja. Wenn wir die Légende mit den Images von Tournier vergleichen, scheint Tournier moderner zu sein als Renié. Aber Renié ist 30 Jahre älter als dieser! Ich denke trotzdem, dass die Werke von Renié besser sind. Technisch und musikalisch gesehen sind sie viel interessanter als die Stücke von Tournier.
Also ja ich bedauere sehr, dass Renié die Harfenstelle nicht bekommen hat. Für Renié selbst aber auch für die Harfe...

Ich vermute, dass Ihre Enttäuschung noch grösser ist, da Sie die Methode für Harfe von Renié sehr schätzen. Was macht diese Methode besonders?
Als Renié diese Methode  schrieb, hatte sie bereits viele Erfahrungen als Harfenistin und als Pädagogin gesammelt und konnte mit Abstand darüber reflektieren. Der erste Band bezieht sich auf die Technik. So angesehen wäre der erste Band der Methode auch ein Werk, dass Hasselmans wahrscheinlich geschrieben hätte. Der Zweite Band ist sehr innovativ. Sie spricht über das Lampenfieber, wie man damit umgehen kann. Ein weiteres Thema ist die Kontrolle des Tempos, die Präsenz auf der Bühne...Sie zitiert viele Beispiele aus Harfenstücken und aus den Solo Orchesterstellen. Sogar erzählt sie, wie man seine einige Erard reparieren kann! Das ist viel mehr als eine Methode um Harfe zu lernen, es ist eine Methode um Harfenist zu werden. Sie gibt ihre Erfahrungen an die nachfolgenden Generationen von Harfenisten weiter. Das gab es noch nie in den vorherigen Werken. Für mich ist ihre Methode wie ein Testament.

Und im Vergleich zu der Methode von Tournier? Er und Renié haben parallel ihre Methoden geschrieben.
Diese Methode ist sehr einfältig! Sehen Sie selbst, er schreibt im Vorwort: „ Ein Geschichtsforscher schreibt irgendwo, dass es nur der weißen Rasse vorbehalten war, die echte Kunst zu erfinden, eine Aufgabe, die nach Tournier nie von der „schwarzen“ Rasse oder der „gelben“ Rasse erfüllt werden konnte. Wir schreiben, dass die alten Musikinstrumente von der „schwarzen“ und „gelben“ Rasse erfunden, und die weiße Rasse hat die Aufgabe, diese zu weiterzuentwickeln und zu verbessern“. Das ist betrüblich. Seine ganze Methode basiert auf diesem Prinzip. Der erste Teil berichtet nicht, wie er es behauptet, die Geschichte der Harfe auf der Welt darzustellen aber erläutert eher die Entwicklung der Harfe zu ihrer perfekten Form : die französische Harfe!...“ Es ist hier, in Frankreich, wo die Harfe ihre definitive Perfektion erreichen wird und wird von der ganzen musikalischen Welt aller Länder bewundert werden“. Ich lasse Sie selbst urteilen. Der zweite Teil behandelt das Thema, wie man für Harfe schreibt. Das ist weniger einfältig aber es bringt nichts Neues. Tournier war 66 Jahre alt und Renié war 70 Jahre alt als die beiden ihre Methoden geschrieben hatten. Bei Tournier schriebt: „Hier stelle ich alles vor, was ich auf der Harfe machen kann.“ Bei Renié ist das eher folgendes: „Hier ist alles, was Sie auf der Harfe machen können.

Alles, was Sie über Henriette Renié erzählt haben, ist nicht immer positiv, besonders das, was ihre Transkriptionen oder ihren Katalog betrifft.  Jetzt möchte ich noch einmal auf Ihre Aussage am Anfang unseres Interview zurückkommen werden Sie noch die Parallele mit Liszt, die Sie ganz am Anfang gemacht haben machen, nämlich: „ Es gibt viele ersten Harfenisten und Harfenistinnen auf der Welt. Henriette Renié ist die Einzige“? Können Sie sich darauf noch einmal beziehen?
Ja auf alle Fälle. Aber ich sage es noch einmal: ich vergleiche hier Liszt und Renié nicht in allen Aspekten. Renié egalisiert Liszt nicht. Wie die Harfenisten nicht die Pianisten egalisieren können. Das ist ein Fakt. Nennen Sie mir nur fünf Namen von Harfenisten, die  genau so genial waren wie Barenbiom, Argerich, Brendel oder zu Reniés Zeit Alfred Cortot, Clara Haskil, Wihlhem Backhaus, Arthur Schnabel, die ich liebe (verehre). Außer Renié sehe ich keine.
Zurück zum Thema zwischen Liszt und Renié: die größte Übereinstimmung ist ihr Bezug zur Musik und die Virtuosität. Die Virtuosität ist niemals umsonst und niemals demonstrativ. Ihre Virtuosität dient immer ihrer Musik. Bei Liszt und bei Renié gibt es so viel Virtuosität in ihrer Musik, dass es so viel Musik in ihrer Virtuosität gibt.